Albert, Else, Helga, Henriette und Selma (geb. Simon) Levy
Der folgende Text wurde bei der Stolpersteinverlegung am 15.6.2016 vorgetragen:
In dem Haus mit der Hausnummer 191 hier in der Alt – Haarener – Straße, die bis 1934 Hauptstraße und dann bis zum Kriegsende Adolf-Hitler-Straße hieß, wohnten bis Anfang 1942 die Kinder Helga und Else Levy mit ihren Eltern Albert Levy und Selma Levy geb. Simon und ihrer Tante Henriette Levy.
Rolf Levy, selber Holocaust-Überlebender, der bis zu seinem Tod vor 3 Jahren hier schräg gegenüber in der Friedenstraße 8 gewohnt hat, hat uns auf die beiden Mädchen aufmerksam gemacht. Im Jahre 2008 haben wir zum Andenken an seinen Vater Hermann und 6 weitere ermordete Familienangehörige in Aachen und hier in der Friedenstraße Stolpersteine verlegt. Damals hatte Rolf Levy auch oft von 2 Mädchen gesprochen, Helga und Else Levy, Töchter eines Vetters seines Vaters, die – ähnlich alt wie er – als Kinder in den 30er Jahren in Haaren gelebt hatten. Es gab aber 2008 keine genauen Angaben zu den Eltern, zum Wohnort und zu den Lebensdaten der beiden Kinder, so dass für sie auch keine Erinnerungssteine gelegt werden konnten.
Kurz vor seinem Tod hat Rolf Levy noch einmal eindringlich darum gebeten, dafür zu sorgen, dass auch an Helga und Else durch Stolpersteine erinnert wird. Inzwischen lagen ihm die Geburtsurkunden der beiden Mädchen vor.
Aus den Geburtsurkunden wissen wir:
Helga Levy wurde am 23. Februar 1930 und Else am 28. März 1931 in Aachen geboren. Sie sind Töchter des Viehhändlers Albert Levy und seiner Ehefrau Selma, geb. Simon aus Haaren. In den Adressbüchern aus den 20er und 30er Jahren haben wir den Handelsmann Albert Levy gefunden, der von 1920 bis 1937 durchgehend in der Hauptstraße 191 in Haaren gemeldet war. Wir können als sicher annehmen, dass dieser Albert Levy der Vater von Helga und Else ist, sie also auch in der Hauptsstraße, heute Alt-Haarener-Straße gelebt haben
Albert Levy wurde am 15. 3. 1885 in Aachen Haaren geboren als Sohn der Eheleute Jakob Levy und Sibilla Levy, geb. Breuer. Von Selma Levy geb. Simon haben wir keine eigenen Unterlagen. Sie taucht nur in den Geburtsurkunden ihrer beiden Töchter Helga und Elsa als Ehefrau von Albert Levy auf. Albert Levys Schwester Henriette wurde am 11.10. 1888 ebenfalls in Haaren geboren.
Helgas Namen haben wir auch noch in einer Verfügung des Regierungspräsidenten vom 14. September 1936 gefunden, aus der hervorgeht, dass sie und 7 weitere Kinder aus Haaren fortan nicht mehr die Volksschule in Haaren besuchen durften, sondern in die jüdische Volksschule in Aachen wechseln mussten. Else war zu diesem Zeitpunkt noch nicht schulpflichtig.
Im Frühsommer 1942 mussten alle noch in Haaren lebenden Menschen mit jüdischen Wurzeln ihre Wohnungen verlassen und wurden im Lager Hergelsmühle interniert. Eine überlebende Haarener Jüdin hat in den 60er Jahren eine Liste aller im Jahre 1942 dort festgehaltenen Haarener Juden zusammengestellt. In dieser Liste stehen auch die Namen von Helga und Else sowie von ihrer Mutter Selma und ihrer Tante Henriette. Das Lager wurde im Juli 1942 aufgelöst und alle Insassen wurden nach Theresienstadt (s. hierzu Korrektur in Bemerkung unten) deportiert. Ihr Vater Albert Levy wurde schon 1941 in das Zwangsarbeiterlager Rhenaniastraße in Stolberg verbracht, von wo er im Juni 1942 nach Maidanek oder Sobibor deportiert wurde.
Alle 5 Familienmitglieder wurden ermordet.
Wir haben einen Bericht aus den 80er Jahren von einem inzwischen leider verstorbenen Haarener Bürger, Professor Hans Kals, der sich an Situationen erinnert, die er als 14-jähriger Junge Ende 1941 oder Anfang 1942 erlebt hat. Hans Kals lebte mit seinen Eltern nicht weit von hier in der damaligen Burgstraße, heute Würselener Straße. Er spricht in seinem Bericht von den beiden Levy-Mädchen aus seiner Nachbarschaft. Aller Wahrscheinlichkeit nach beziehen sich diese Erinnerungen auf Helga und Else. Diese Schilderung von Gedanken und Gefühlen eines damals 14-Jährigen – also eines Jungen etwa unseres Alters – möchten wir Ihnen gerne vorlesen.
„Dieser Nachbar Levy blieb mir wohl auch deshalb so gut im Gedächtnis, weil er – schob er in Arbeitskleidung, die Klammern an den Hosenbeinen, sein Rad die steile Straße hinauf – von fern meinem Vater zum Verwechseln ähnlich sah. Er hatte zwei kleine Töchterchen, die die Aachener „Judenschule“ besuchten. Sie standen oft an der Straßenbahnhaltestelle, wenn ich frühmorgens in die katholische Kirche zum „Messedienen“ ging. Ich sprach nie ein Wort mit ihnen, sondern lief mit abgewandtem Gesicht an ihnen vorbei. Sie werden geglaubt haben, dass ich sie verachtete. In Wahrheit lösten sie bei mir Gefühle unerträglicher Scham aus. Ich hätte sie mit Geschenken überhäufen, mit Freundlichkeit erdrücken mögen.
Nach und nach wurden sie mir in der Rückblende geradezu zu Symbolfiguren des jüdischen Schicksals überhaupt. Immer noch sehe ich sie mit dem Judenstern, scheu und verlegen, unter den Fliederbüschen stehen, die dort an der Haltestelle der Tram über eine Villenmauer hinüberwucherten. Sie erscheinen mir noch heute oft im Traum, und ich werde dann von den gleichen Gefühlen der Scham und schuldhaften Bedrückung überschwemmt wie damals.
Es dauerte nicht lange. Auf einmal standen sie morgens nicht mehr da.“
Hans Kals war 14 Jahre alt. Helga war zu dem Zeitpunkt 12 Jahre alt, Else 11 Jahre. Von den beiden haben wir keine Berichte. Was mag in ihnen vorgegangen sein?
Wir (Ava, Cara, Claire, Felicia, Filip und Mara) haben einmal versucht, uns in ihre Gedanken hineinzuversetzen und einen inneren Monolog aus Helgas Sicht zu verfassen:
„Es ist wieder mal ein schrecklicher Tag… So wie jeder Schultag. Früher ging ich gerne zur Schule, hier in Haaren. Ich wurde akzeptiert als die Jüdin Helga, aber jetzt ist Jude ein Schimpfwort und meine Religion zu verteidigen eine Straftat.
Jeden Morgen stehen wir an dieser Straßenbahn Haltestelle, weil wir in die jüdische Schule in der Stadt müssen. Und da kommt er wieder vorbei: Hans. Ich war früher auf der gleichen Schule wie er, aber jetzt bin ich weggeschoben worden. Er geht aufrecht und selbstbewusst – Er kann sich das erlauben und so tun, als kennte er mich nicht, mich, die unwerte Jüdin Helga.
Was habe ich nur falsch gemacht?! Was haben wir falsch gemacht?!
Wir Juden haben doch niemandem etwas getan, oder? Ich bin wie jeder andere Mensch auch, wie die arische Rasse – so nennt man jetzt die guten Deutschen.
Seitdem der Judenstern eingeführt wurde, fühle ich mich anders… Ich weiß nicht warum, es ist doch nur ein Stern – Aber jetzt fühle ich mich präsentiert als Mensch, der die Welt verschmutzt.
Jeder hasst Juden. Papa sagt, das ist Gruppenzwang und seit einiger Zeit soll man eben auch direkt sehen, wer kein richtiger Deutscher ist.Ich muss Platz machen für die besseren, habe nicht das Recht, mich auf alle Bänke zu setzen, werde von anderen angerempelt und muss mich noch dafür entschuldigen.
Auch meine Zukunft wird mir geklaut. Als Jude darf man jetzt nicht mehr einfach so einen erfolgreichen Laden führen, ich darf nicht meinen Traumberuf ausüben.
Noch vor wenigen Jahren fühlte ich mich frei. Aber jetzt nicht mehr, dabei ist die Welt doch noch immer die gleiche und die Menschen können sich doch nicht so stark verändert haben – Aber die Menschen haben sich verändert, wo ist das klare Denken hin? Es kann dir doch keiner deine Gedanken nehmen! Wie lange soll dieser Fluch noch anhalten? Mama sagt sie wird müde… Ihre Lebensenergie sei nicht unendlich.
Was muss denn noch passieren? Alle schauen zu, jeder sieht wie es uns Juden geht, aber keiner sagt etwas…
Gleich bin ich endlich zu Hause, das wurde uns noch nicht genommen und dort kann ich noch sein wer ich bin: Die Jüdin Helga. Ich kann aufrecht gehen, selbstbewusst über alles reden und meine Gedanken mit Mama und Papa austauschen. Ich darf mich auf jeden Stuhl setzten, werde nicht angerempelt und bin frei.
Aber in den nächsten Tagen, hat Papa gestern gesagt, ist auch das zu Ende. Dann müssen wir unsere Wohnung verlassen und mit allen anderen jüdischen Familien aus Haaren in die Baracken im Lager an der Hergelsmühle ziehen. Jede Familie in einen einzigen Barackenraum. Fast nichts aus unserer Wohnung dürfen wir mitnehmen. Wie sollen wir das aushalten? Und warum? Warum?“
Natürlich können wir nicht genau wissen, was diese Kinder gedacht haben.
Wir werden ihre Gefühle nicht wirklich erfassen können,
Wir werden uns auch nicht in ihre Lage hineinversetzen können.
Aber wir können an sie denken.
Wir können dafür sorgen, dass sie nicht in Vergessenheit geraten.
Wir können uns an sie erinnern!
Und das ist der Sinn der Stolpersteine – die Erinnerung am Leben zu halten.
Bemerkung (Waltraud Felsch): Inzwischen (2024) – nachdem zahlreiche Lagerlisten zugänglich gemacht worden sind, auf die wir bei unseren Recherchen noch keinen Zugriff hatten – weiß man, dass tatsächlich nicht alle Insassen des Lagers Hergelsmühle nach Theresienstadt deportiert wurden, sondern einige, darunter auch Helga, Else, Selma und Henriette Levy, von der Hergelsmühle aus in ein Lager in Eschweiler gebracht wurden und dann schon am 15.6.1942 von Aachen aus nach Sobibor deportiert wurden. Somit wurde die Familie zusammen mit dem Vater in demselben Transport deportiert.
Dieses in Eschweiler aufgetauchte und in dem Zeitungsartikel „Wer weiß noch, wo die Lager waren?“ von Thomas Müller in den Eschweiler Nachrichten vom 8. Mai 1990 veröffentlichte Foto zeigt mit großer Wahrscheinlichkeit Helga und Else Levy im Sommer 1942:
