Anna Amberg
Anna Amberg wurde am 9. September 1886 in Aachen als Tochter von Bertha geb. Heinemann und Carl Philip geboren. Anna, von Verwandten und Freunden auch als Erwachsene meist Aennchen genannt, besuchte – wie später auch ihre drei Töchter – die Aachener Viktoriaschule. Ihre älteste Tochter Irmgard beschreibt ihre Mutter als eine sehr fröhliche Frau, die immer für einen kleinen Scherz zu haben war. 1911 heiratete sie den Elektroingenieur Dr. Richard Amberg aus Duisburg. Das große Hochzeitsfest wurde im Restaurant Drei Türmchen in der Lousbergstraße gefeiert.
Nach einer Hochzeitsreise an den Rhein brach das junge Paar in die USA auf, da Richard Amberg Schwierigkeiten hatte, als Jude in der deutschen Elektroindustrie eine Stelle zu bekommen. Er hatte ein Angebot in Pittsburgh und fühlte sich dort auch sehr wohl. Anna vertrug das schwüle Klima nicht so gut, und als sie mit ihrer ersten Tochter schwanger war, reiste sie zurück nach Aachen, wo am 9. August 1912 die Tochter Irmgard im Haus der Großmutter geboren wurde. Nach einigen Wochen begab Anna Amberg sich mit einem Kindermädchen und dem Baby auf die Schiffsreise zurück zu ihrem Mann in die USA. Während des USA-Aufenthaltes konvertierten Anna und Richard Amberg zum Protestantismus und ließen die kleine Irmgard taufen. Irmgard schildert in ihren Erinnerungen, dass ihre Mutter sich wohl unter dem Einfluss ihres älteren Bruders dem Christentum zugewandt hat und sich auch zunehmend deutlich vom Judentum distanzieren wollte. Andererseits habe ihr Vater, der in einer jüdisch-orthodoxen Familie groß geworden sei, sich nie ganz mit dem Christentum versöhnt.
Kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges kehrte die junge Familie nach Deutschland zurück, da Richard Amberg wie sein Schwager Paul Philip seine „vaterländische Pflicht“ erfüllen wollte und sich freiwillig zum Wehrdienst meldete. Anna und die kleine Irmgard pendelten in den ersten Kriegsjahren zwischen den beiden großelterlichen Häusern in Aachen und in Duisburg. Als Richards Bruder Carl Amberg 1915 an der Ostfront ums Leben kam, erlitt Richard Amberg, der selber an der Westfront stationiert war, einen Nervenzusammenbruch und wurde krankheitsbedingt aus der Armee entlassen.
Zunächst übernahm er eine Arbeit in der metallverarbeitenden Industrie in Schwerte. In Schwerte wurde am 14. Juli 1916 auch die zweite Tochter Margret geboren. Im Herbst 1917 wurde Richard Amberg in die Betriebsleitung eines großen Stahlwerkes in Düsseldorf versetzt und die Familie zog in ein Haus am linken Rheinufer in Düsseldorf-Oberkassel, wo sie zeitweise unter belgischer Besatzung lebten. Dort wurde Anfang 1920 die dritte Tochter Marie Luise (Marielies/Marlies) geboren. Irmgard berichtet, dass der Vater sich nach einer interessanteren Arbeit umsah und schließlich ein Angebot in der Elektroindustrie in Nürnberg annahm, wohin die Familie dann von Düsseldorf aus zog.
Am 16. Dezember 1923 wurde in Nürnberg der Sohn Carl geboren. Irmgard erinnert sich an eine glückliche Zeit in Nürnberg, an Konzert- und Opernbesuche mit der kulturbegeisterten Mutter, an Hausmusikabende im großen Erkerzimmer, in dem der Flügel stand, den Anna Amberg von ihren Eltern zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte, an kleine Theaterstückchen und Schattenspiele, die die Tante Marga Philip, wenn sie aus Köln zu Besuch kam, mit den Kindern einstudierte, an rheinische Kostümfeste im fränkischen Nürnberg. Sie erinnert sich aber auch an einen Schaukasten, an dem sie jeden Morgen auf dem Schulweg vorbeikam und in dem die neueste Ausgabe von Der Stürmer präsentiert wurde.
Im Alter von nur 47 Jahren verstarb Richard Amberg am 16. März 1928 in Nürnberg an den Folgen einer Infektionskrankheit. Mit ihren vier Kindern zwischen fünf und 16 Jahren wollte Anna Amberg nicht allein in Nürnberg bleiben. Sie zog zurück nach Aachen, zunächst in ihr Elternhaus in der Lousbergstraße zu ihrer Mutter Bertha Philip. Schließlich kaufte Berthas Bruder, der Essener Rechtsanwalt Salomon Heinemann, der selber keine Kinder hatte, der jungen Witwe ein Haus in Aachen in der Salierallee 7, das sie mit ihren vier Kindern alleine bewohnen konnte.
Anna Amberg mit ihrer Mutter Bertha Philip und den vier Kindern / Haus Salierallee 7
Die Mädchen gingen auf die Viktoriaschule, Irmgard nur für ein Abschlussjahr, und Carl besuchte später einige Jahre das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium. Nach dem Schulabschluss verbrachte Irmgard ein halbes Jahr in London und einige Monate in Nancy, um ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen und in beiden Fremdsprachen Schreibmaschinen- und Handelskurse zu besuchen. Zurück in Aachen besuchte sie eine Kunstgewerbeschule, war dort insbesondere in einer Werkgruppe, die von Rudolf Schwarz geleitet wurde, und lernte dann weiter im Studio von Professor Hans Schwippert. Sie arbeitete als Kindermädchen in Italien, versorgte für einige Monate den Haushalt ihres Großonkels und ihrer Großtante Heinemann in Essen, besuchte schließlich 1936 noch für ein Jahr eine Werkkunstschule in Basel. Später arbeitete sie als Korrespondentin in einem Patentbüro. Aus Briefen, die Anna Amberg an Verwandte ihres Mannes in den USA schrieb, wissen wir, dass sie sich ab Mitte der 30er Jahre intensiv bemühte, für Irmgard eine Möglichkeit zur Emigration in die USA zu finden.
Aus diesen Briefen kennen wir auch einige Details über die Entwicklung der anderen drei Kinder. 1935 besteht Margret ihr Abitur und beginnt ein Chemiestudium in Genf, wo sie bei Verwandten wohnen kann. Marlies ist eine hervorragende Geigerin und möchte das Instrument zu ihrem Beruf machen. Sie hofft auf ein Studium bei Professor Bram-Eldering. Auch Carl ist ein sehr guter Schüler, nimmt an Turnwettbewerben teil und spielt begeistert Cello, so dass Anna Amberg mit ihm und Marlies gelegentlich Trios spielen kann.
Die Briefe werden immer sorgenvoller und drängender. 1938 bittet Anna Amberg darum, Antwortbriefe nicht mehr nach Aachen zu schicken, sondern an Freunde in Maastricht zu adressieren. In einem Brief vom 28. November 1938 spricht Anna zum ersten Mal davon, dass auch sie das Land verlassen sollte. Einen deutlichen Einschnitt bedeutet für sie das schockierende Schicksal des Bruders ihre Mutter, des Justizrats Dr. Salomon Heinemann, Anwalt, Notar und engagierter Kunstmäzen in Essen, und seiner Frau, der Schriftstellerin Anna Heinemann geb. Wertheimer. Nach der Plünderung und Verwüstung ihrer Wohnung in der Pogromnacht durch SA-Truppen und Zerstörung einer wertvollen Kunstsammlung, die von dem kinderlosen Ehepaar schon per Testament der Stadt Essen vermacht worden war, hatten die beiden gemeinsam ihrem Leben ein Ende gesetzt. Denselben verzweifelten Schritt wird knapp drei Jahre später am 17. 9.1941 auch die Schwester von Annas Mutter, Paula Aschaffenburg geb. Heinemann, in Hannover gehen.
Anna Amberg 1938/1939
Im Frühjahr 1939 konnten Margret, die ihr Chemiestudium schon abgeschlossen hatte, und Marlies Amberg durch Vermittlung von Freunden und Verwandten Arbeitsstellen als Kindermädchen bzw. Haushälterin in England antreten. Irmgard wartete bei den Freunden ihrer Mutter in Maastricht auf ein Visum, eigentlich für Amerika, für den Fall dass das nicht rechtzeitig klappen sollte, hatte sie auch ein Visum für England beantragt. Wenige Tage vor Kriegsbeginn traf ein Visum für England ein und Irmgard kam, wieder durch Vermittlung von Freunden, als Köchin in einem Haushalt in Exeter unter. Noch im Laufe des Jahres 1939 erhielt Marlies auf Vermittlung ihres Arbeitgebers die Chance, im Manchester Conservatory vorzuspielen, und sie konnte so überzeugen, dass man ihr ein Stipendium anbot. Daher nahm Marlies Ende 1939 ein Violinstudium in Manchester auf.
Den erst 14-jährigen Carl hatte Anna Amberg schon im Sommer 1938 auf die private jüdische Leonore-Goldschmidt-Schule in Berlin-Dahlem geschickt, da er zunehmend unter der Ausgrenzung in seiner Aachener Schule litt. Im Sommer 1939 bekam Carl dann ein Stipendium für das Winchester College in Südengland und die Möglichkeit dort im Haushalt einer Witwe zu wohnen.
Nachdem ihre Kinder erst einmal in Sicherheit waren, intensivierte Anna Amberg die Planungen für ihre eigene Auswanderung. Im Sommer 1939 rechnete sie fest damit, sehr bald ihren Kindern nach England folgen zu können. Die Arbeitgeber und Sponsoren ihrer Kinder boten an, auch ihr zu helfen. Die Möbel sollten erst einmal im Hafen in Bremen zwischengelagert werden. Aber nach Kriegsbeginn wurde ihre Situation zunehmend aussichtsloser. Die Postverbindung zu den Kindern wurde schwierig und funktionierte zum Teil nur auf dem Umweg über die Verwandten in den USA. So erfuhr sie auf diesem Umweg von der Hochzeit ihrer ältesten Tochter Irmgard im September 1940 und auch von der Geburt ihres ersten Enkels Francis Treuherz im Dezember 1941.
Von ihren amerikanischen Verwandten erfuhr sie auch, dass der 16-jährige Carl im Mai 1940 kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in die Niederlande und Belgien als enemy alien verhaftet und zunächst auf der Isle of Man interniert und schließlich nach Kanada verschifft worden war. Dort wurde er zwei Jahre lang in verschiedenen Internierungslagern festgehalten, zum Teil zusammen mit deutschen Kriegsgefangenen und überzeugten Nazis. Dass er diese Zeit im Nachhinein nicht als verlorene Zeit betrachtete, liegt daran, dass er viele hochqualifizierte jüdische Mitgefangene hatte, die lagerintern Schulunterricht für die Jugendlichen und unzählige kulturelle Veranstaltungen aller Arten organisierten. Als Carl im Sommer 1942 endlich freigelassen wurde, war er in der Lage, die Aufnahmeprüfung für ein Studium an der Universität Toronto zu bestehen. Er studierte dort Chemie und wurde später Professor an der Carleton University in Ottawa, wo er im Dezember 2023 seinen 100. Geburtstag feierte.
In den Jahren 1940 und 1941 schrieb Anna Amberg zahllose Briefe und Telegramme an die Verwandten in den USA mit immer drängenderen Bitten um Hilfe bei der Beschaffung von Visa und Schiffspassagen. Mehrmals scheinen die Bemühungen am Ziel und die Reisevorbereitungen werden konkret, zuerst mit dem Ziel New York, schließlich, als das nicht mehr möglich ist, im September 1941 mit dem Ziel Kuba. Aber auch dieser Plan zerschlägt sich – als endlich alle Verpflichtungserklärungen und Genehmigungen zusammen sind, ist schließlich doch keine Schiffspassage mehr zu bekommen.
Im März 1941 wird Anna gezwungen, ihr Haus in der Salierallee zu verlassen. Sie kommt in einem Zimmer bei dem Ehepaar Adolf und Gertrud Rosenthal in der Frankenbergerstraße 20 unter. Adolf Rosenthal ist zu dem Zeitpunkt als letzter Repräsentant der Aachener Synagogengemeinde intensiv damit befasst, die noch in Aachen verbliebenen Gemeindemitglieder in ihren Ausreisebemühungen und schließlich bei den ihnen auferlegten Vorbereitungen für ihre eigenen Deportationen zu unterstützen. Lassen wir hier eine Augenzeugin zu Worte kommen, die in Köln lebende Schwester der Frau von Annas Bruder, Erika Hessberg geb. Nockher, die Anna Amberg beim Verlassen ihres Hauses beigestanden und sie in den folgenden Monaten sehr regelmäßig besucht hat. In einem Brief an Annas Kinder schreibt sie 1946: „ Dann kam der Abschied von der Salierallee; wie tatkräftig und wie tapfer war sie da. Tag und Nacht hat sie gearbeitet, um möglichst viel für Euch zu retten und so vielen Leuten zu helfen, die in Not waren. Als sie dann der Gestapo das Haus übergeben musste, […] da hat sie keine Träne geweint und ihr einzigstes Wort an die Leute war: ‚Sie werden wohl gestatten, dass ich mir aus meinem Garten noch einen Strauß Veilchen pflücke.’ – mit diesen Veilchen zogen wir dann in die Frankenbergerstraße ein. Es war ja für sie, fast möchte ich sagen eine große Gnade, dass sie dort wohnen durfte und nicht irgendwo anders hin musste. Frau Rosenthal war eine so unendlich gütige Frau und er […] ein so feiner und anregender Mann […] und in dieser kleinen, von Notleidenden und oft Verzweifelten Menschen immer überfüllten Wohnung ging eine Welle der Harmonie und Ruhe und Hilfe aus, wie es wahrscheinlich in keinem Nazi-Haus war. Und einen ganz, ganz großen Anteil daran hatte Mutti, die durch die Güte ihres Wesens, ihre immer gleich bleibende Freundlichkeit, die absolute Selbstverständlichkeit mit der sie jede Arbeit tat, von allen so sehr geliebt wurde.“
Am 15. Juni 1942 wird Anna Amberg von Aachen aus nach Sobibor deportiert und dort ermordet.
Zwei Tage vorher schreibt sie einen Abschiedsbrief an ihre Kinder, der aber trotz allem noch von Hoffnung spricht: „ Wir haben vieles durchgestanden und wir hoffen, dass wir auch diese Phase heil und gesund überstehen werden. Schließlich sind wir nicht allein, und unser Gott ist überall, für euch und für mich – ich spüre das besonders in diesen Tagen. Ich bete darum, dass wir einander eines Tages wieder sehen. Man sagt, dass es da, wo wir hinfahren, nicht so unangenehm sein soll .“
Zur Stolpersteinverlegung am 15. Juli 2009 sind Nachkommen aller vier Kinder von Anna Amberg nach Aachen gekommen, zwei Söhne und ein Enkel von Irmgard aus London, eine Tochter, ein Sohn und eine Enkelin von Marlies aus Leeds, eine Tochter von Margret aus Athen und eine Tochter und ein Enkel von Carl aus Wien.
Enkel und Urenkel von Anna Amberg vor ihrem Haus in der Salierallee 7
Annas älteste Tochter Irmgard ist nach dem Krieg zum Judentum konvertiert – zurück zum Glauben ihrer Väter, wie sie es selbst ausdrückte, und ihre Söhne Francis und Richard Treuherz haben bei der Verlegezeremonie über ihre jüdischen Wurzeln gesprochen und einen Psalm rezitiert. Anna Ambergs Sohn Carl schrieb im Vorfeld der Verlegung, es sei ihm sehr wichtig, dass auch bei der Zeremonie deutlich werde, dass seine Mutter überzeugte protestantische Christin war und sich nie als Jüdin gesehen habe. Und dann ergänzte er, es sei vielleicht interessant zu bemerken, dass Annas Tochter Margret einen griechisch-orthodoxen Mann geheiratet hat und seine eigenen Kinder muslimische und katholische Partner.